C.G. Jung, der Autor des Buches "Mensch und Seele" und Gründer der Analytischen
Psychologie hat behauptet, dass die größte Gefahr, der die Menschheit gegenüberstehe,
die 'Seelische Gefahr' sei und dass diese aus dem Unterbewusstsein des Menschen
stamme. Der Planet Erde gerate unter die Herrschaft eines Menschentypus, der
zunehmend sein Bewusstsein beiseite lasse und versuche, sein Dasein und seine
Beziehungen mithilfe seines Unterbewusstseins aufrechtzuerhalten. In einer solchen
Situation ist der Feind im Inneren zu verorten und die Bedrohung sind "wir selbst". Die
Lösung scheint bisher nur darin zu bestehen, dass jeder Einzelne sich selbst
gegenübertritt und sich selbst mit sich selbst konfrontiert. Kannst du dir eine andere
Alternative vorstellen?
Die Kalender zeigten den 17. Mai 2015 an, und obwohl es der letzte Monat des Frühlings
war, herrschte ein kühler Abend in der Ägäis. Ich befand mich genau in der Mitte des 6500
Personen fassenden Amphitheaters neben dem Athena-Tempel in der antiken Stadt Priene
im Bezirk Söke in Aydın, wo Alexander der Große den Bau des Tempels finanziell
gefördert hatte.
Unter der Regie von Ayla Algan verkörperte ich den Meeresgott Poseidon in meinem
selbstgeschriebenen Theaterstück "Die Götter Anatoliens". Während ich die markantesten
Worte "Erkenne dich selbst" aussprach, war ich mir nicht bewusst, dass vor Tausenden
von Jahren Bias, einer der sieben Weisen Griechenlands, dieselben Worte in Priene
gesagt hatte.
Der Satz "Erkenne dich selbst" taucht im Jahr 1999 erneut mit dem Science-Fiction-Film
"Matrix" vor den Menschen der modernen Welt auf. Im Film gibt es einen Helden Neo, der
nach der Wahrheit sucht. Dieser Held ist tagsüber ein Angestellter einer Firma der seine Steuern zahlt, und nachts ein Hacker, Neo, der illegal Geld verdient. Er ist auf der Suche,
aber er schläft noch. Er sucht nach dem Wegweiser, der ihn aufwecken wird. Schon Jesus sagte: "Suchet, so werdet ihr finden; klopfet an, so wird euch aufgetan werden." Das Universum wird dem Helden, der sich auf die Suche nach seinem Wunsch begibt, die Tür öffnen. Wer von uns würde seinem Kind, das uns um Brot bittet, einen Stein geben? Oder wenn es um einen Fisch bittet, ihm eine Schlange geben?
Neo ist aufrichtig in seiner Suche. Denn er ist im materiellen und geistigen Sinne nicht
mehr zufrieden. Nichts gibt ihm das, wonach er sucht. Wenn der Diener nicht in
Bedrängnis gerät, wird der Hızir nicht kommen. Hızir ist die Bezeichnung für einen
helfenden, Heiligen im anatolischen Volksglauben. An diesem Punkt trifft unsere
Hauptfigur, die den Mut aufbringt, ihren sicheren Ort zu verlassen und sich ihren Ängsten
zu stellen, auf ihren Hızır, der schon Moses den Weg wies.
Für Neo ist sein Wegbegleiter, der ihm die nötigen Informationen und den Mut geben wird, die Schwelle zu überschreiten: Morpheus. Nach dieser Begegnung wird nichts mehr so sein, wie es vorher war.
Morpheus: "Du bist hier, weil du etwas weißt. Du kannst nicht erklären, was du weißt.
Aber du fühlst es. Du hast es dein ganzes Leben lang gespürt. Das Gefühl, dass etwas
nicht stimmt... Du weißt nicht, was es ist, aber es macht dich verrückt, wie ein Splitter, der
in den Falten deines Gehirns steckt. Weißt du, wovon ich spreche?''
Neo: "Matrix?"
Morpheus: "Weißt du, was es ist? Die Matrix ist überall. Überall um uns herum, genau
jetzt, hier in diesem Raum. Du kannst sie sehen, wenn du aus dem Fenster schaust oder
den Fernseher einschaltest. Du kannst sie spüren, wenn du zur Arbeit gehst oder in die
Kirche, wenn du deine Steuern zahlst. Es ist der Schleier, der über deine Augen gezogen
wird, um dich für die Wahrheit zu blenden."
Das wird nur der Anfang für Neo sein. Er nimmt die rote Pille und begibt sich auf eine
unumkehrbare Reise. Anders als erwartet, ist sie eine Reise der Zerstörung, der
Vernichtung. Es ist eine Reise zum "Ayn‘a" der Kabbala und zur "Leere" des Sufismus.
Was übrig bleiben wird, ist ein “Nichts” von Thomas Anderson. Morpheus sagte ihm:
"Vergiss nicht, ich verspreche dir nur die Wahrheit, nichts weiter..."
Durch das Überschreiten der Schwelle wird Neo aus dem Tod von Thomas Anderson
geboren. Am Anfang ist dies natürlich kein wirklicher Tod. Es ist der Tod in dem Satz "Stirb,
bevor du stirbst", auf den im Sufismus oft Bezug genommen wird. Neo setzt sich aus den
Buchstaben des englischen Wortes "One" zusammen, das Einswerden bedeutet. Der
Prozess des Einswerdens bedeutet hier, dass der Held auf einer spirituellen Reise eins mit
seinem Schöpfer wird. Eins werden bedeutet, alles als "Eins" zu sehen, alles von "Eins"
aus zu sehen. Neo hat diese Stufe noch nicht erreicht. In diesem Stadium hat er die
Entscheidung getroffen, alles, was er kennt und woran er glaubt, hinter sich zu lassen. Es
gibt noch Orte, an die er gehen muss, und Prüfungen, die er bestehen muss.
Beim Übertreten der Schwelle zieht sich Neo während des tiefsten Teils seiner Reise in
seine eigene Höhle zurück. Diese Höhle ist die Küche des Orakels. Die Figur, die als
“Orakel” bekannt ist, repräsentiert in Wirklichkeit die Göttin der Weisheit, die in der
Mythologie als "Sophia" bekannt ist. Das Orakel erscheint in Form einer "Mutter", die in
ihrer Küche kocht. An der Tür der Küche steht der Satz "Nosce Te Ipsum", der darauf
hinweist, dass unser Held, der auf dem Weg zur Selbsterkenntnis ist, dort nachschauen
sollte, um die ihm bevorstehenden Hindernisse zu überwinden.
"Nosce Te Ipsum", übersetzt: "Erkenne dich selbst". Dieser Satz gilt als einer der
wirksamsten Sätze in der Geschichte, der seit Tausenden von Jahren an verschiedenen
Orten auf der Erde wiederholt wird. Inmitten der Illusion der modernen Welt zeigt er auf
einen innen Ort, der demjenigen, der gegen den Feind kämpft, Intelligenz verleiht und ihm
den Sieg im Krieg sichert... Mit anderen Worten: "sich selbst". Was also ist diese
Selbsterkenntnis? Das ist die Hauptfrage...
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